Mittwoch, 8. Juni 2016

Eloge an einen Unverbesserlichen


Die Nachricht von Rupert Neudecks Tod kam per sms. Es war wie ein Schlag in die Magengrube, kannte ich Rupert doch von früheren Auslandseinsätzen. Für mehrere Augenblicke hielt ich inne und der zweite Gedanke, der kam: "Mensch, der war doch erst 77 Jahre und noch so agil".
Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen kommen hoch. Bilder. Man kann sich nicht dagegen wehren. So geschehen auch bei der zweiten Nachricht über Muhammad Ali's Tod am nächsten Tag.

Der eine Rupert Neudeck, der andere Muhammad Ali!
Beim Lesen der vielfältigen Nachrufe und Beileidsbekundungen fällt mir auf, dass diese beiden, so verschieden sie sind, sich in ihrer Zielsetzung sehr gleichen: Die Welt wollten sie zu einem besseren Ort machen. Klingt vielleicht kitschig, doch trifft es zu. Ich zeige euch, was ich meine.
Der eine hat das Boxen neu erfunden, trat für die Menschenrechte ein und gab Millionen Menschen, die an Parkinson leiden, so etwas wie Trost. Der andere rettete Tausende von Menschenleben, setzte sich für die Notleidenden ein und rüttelte die Gesellschaft wach. Immer wieder und wieder, bis wir es nicht mehr hören konnten, ja, bis es weh tat. Ein wahrer Wachrüttler eben!
Beide lebten ihre Religion, beide hatten den Glauben an eine Mission. Beide traten für Gerechtigkeit und Frieden ein. Sie hatten das gleiche Ziel, die gleiche Aufgabe und machten keine - gar keine - Kompromisse!
Sie hatten Leidenschaft und eine klare Vorstellung wie die Welt NICHT sein sollte. Dafür kämpften sie, wenn nötig auch auf illegale Weise. Sie hatten diesen inneren, unfehlbaren Kompass, der dir sagt, was richtig ist, sowie den Mut und die Überzeugung diesem Weg zu folgen.
Beide hatten mich auf ihre Art und Weise bestärkt und inspiriert. Der eine in der Verweigerung des Dienstes an der Waffe, der andere beim Dienst am Menschen.


„Man muß etwas riskieren“. (Ruppert Neudeck)

„Wer nicht mutig genug ist, Risiken einzugehen, wird es zu nichts bringen“.
   (Muhammad Ali)

„Niemals feige – immer mutig“. (Neudeck)

„Ein Mensch ohne Vorstellungskraft hat keine Flügel“. ( Ali)

„Diese Geschichte vom barmherzigen Samariter, tritt mir immer wieder in den Bauch: Du bist zuständig für die Not anderer Menschen. Jetzt. Sofort“. (Neudeck)

Den einen, Muhammad Ali, kannte ich nur aus dem Fernsehen und den Zeitungen - den anderen,
Rupert Neudeck, kannte ich persönlich.
Ich bin ihm in meinem Leben wohl dreimal begegnet und damit fing alles an vor 27 Jahren. Hilfsorganisationen gab es schon immer, aber was Rupert machte, war damals neu und ist es nach 35 Jahren noch immer. Es war der Notwendigkeit der Hilfe für in Not-Geratene geschuldet. Es gab keine langen Bewerbungen, Vorstellungen oder Büroräume. Alles musste schnell gehen und mit wenig Aufwand und jeder konnte mitmachen. Es gab schließlich keine Zeit zu verlieren, wenn Hilfe nötig war. Man konnte diesen Ur-Geist der Cap-Anamur spüren, letztendlich auch der Geist und das Charisma von Rupert Neudeck und besonders von seiner Frau Christel, der Ruhepol und ausgleichende Faktor in dieser familiären Organisation - ja, das zeichnet sie aus bis heute, eine große Familie: Die Cap-Anamur-Familie. 
Es war wie dieser Zauber, den Hermann Hesse in seinem "Stufen-Gedicht" beschreibt - "Einem jeden Neuanfang wohnt ein Zauber inne.". Es herrschte damals eine unglaubliche Be-geisterung für die Sache selbst. Rupert konnte mit der Macht des Wortes und seiner Leidenschaft Menschen für die Sache begeistern. Er wusste wie man diesen Zauber am Leben hält. Nach einer Begegnung mit ihm brannte man selbst dafür. Eine Leidenschaft entfachen, trifft es vielleicht noch besser. 

Einer Bewerbung bei Cap Anamur folgte eine Einladung in das kleine Wohnzimmer der Neudecks, das als Büro, Besprechungszimmer und Treffpunkt genutzt wurde. Dort wurden die Einsätze besprochen und vorbereitet. Christel nahm sich auch später immer die Zeit für ein Gespräch bei einer Tasse Kaffee oder Tee. 
Cap-Anamur war weit mehr als nur das Schiff. Lasst es mich pathetisch sagen:
Cap-Anamur ist eine Philosophie - eine Nothilfe-Philosophie.
Hilfe. Sofort! Unbürokratisch! Jetzt! Irgendwie! Wer ist dein Nächster?! Jeder in Not! 
Mit einem Chef, der das auch lebte. Cap-Anamur war Rupert! 
Dafür ist er natürlich auch kritisiert worden. 

Das zweite Mal traf ich Rupert in Rwanda, nach dem Genozid. Ich war dort für die Johanniter. Da alle Fahrzeuge von Cap-Anamur im Einsatz waren, bot ich mich an, Rupert zu seinen Treffen mit anscheinend wichtigen Politikern zu fahren. Nach wie vor faszinierte mich diese unglaubliche Energie, mit der er eine Sache ausführte. 
Zuletzt traf ich ihn dann vor 10 Jahren bei einer seiner Vorträge in München. Man konnte ihm stundenlang zuhören, ohne müde zu werden. Er hat sich immer die Zeit genommen anschließend zu diskutieren.  Zeit nahm er sich für jeden Einzelnen. Er war ein Erlebnis. 
Es schien als hätte ihm die Zeit nichts anhaben können, obwohl sein Leben für 3 gereicht hätte. Vermutlich war es genau das. In seinen Projekten steckte immer, wie er selbst sagte, viel Herzblut!

Eine vergleichbare Organisation habe ich bisher nie wieder getroffen, nicht bei MSF, Johanniter, Malteser oder Rotes Kreuz. Dieses familiäre, unkomplizierte und auf Du-und-Du angelegte, gemeinsame Arbeiten, war und ist einzigartig!
Diesen Geist zu beschreiben ist schwierig. Es ist ja nicht nur das Helfen für Notleidende. Es ist auch ein sich Einbringen als ganzer Mensch mit seinen Fehlern und Schwächen und eben nicht nur mit seinem Beruf!

Mit dem Tod von Rupert Neudeck ist auch ein Stück Cap-Anamur-Geist gegangen. Es liegt an uns diese Begeisterung weiter zu tragen und die Flamme nicht erlöschen zu lassen. Es liegt nicht nur an uns, es ist unsere Verpflichtung!

Lebt wohl dort, wo ihr jetzt seid und hört nicht auf uns wach zu rütteln.

Gras wächst, Vögel fliegen, Menschen retten. (Ali/Rupert)